Emil Nicolai
Straßenbild
Ein Menschenhauf – ein Schutzmann – und ein Karren
Und auf dem Karren ein betrunk’nes Weib.
Notdürft’ge Kleidung deckt den magern Leib –
Die Nase spitz, wie eines Giebels Sparren.
Die Menge gafft – und tut der Dinge harren,
die sich entwickeln ihr zum Zeitvertreib. –
Und mancher Schimpf trifft das betrunk’ne Weib,
des Augen glasig in die Leere starren.
Sie griff zur Flasche in des Lebens Not,
als ihr das Herz umkrallt der Ohmacht Gram;
die Kinder weinten: »Mutter! – Hunger! – Brot!«
Nun deckt die blassen Wangen brennend Rot
Wie in des Unglücks unbewußter Scham –
Der Karren rollt. Ein Opfer – lebend tot.
(1910)